Sicherheit ist ein Thema, das jeden Menschen betrifft und das besonders in der heutigen Zeit von einer großen Wichtigkeit zeugt. Der Verband für Sicherheitstechnik e.V. (VfS) hat ein neues Handbuch mit dem Titel „Zufahrtsschutz für die Praxis. Zufahrtsschutz im urbanen Umfeld“ veröffentlicht. Verfasst wurde es unter anderem von dem Sicherheitsexperten Yan St-Pierre.

Der Autor, Terrorismusbekämpfungsspezialist und Sicherheitsexperte Yan St-Pierre stellt uns das Buch vor und erklärt, warum das Thema Zufahrtsschutz ein aktuelles und wichtiges Thema ist.

Willkommen, Herr St-Pierre!

Herr St-Pierre, welche Themenbereiche behandeln Sie in Ihrem Buch?

Yan St-Pierre: Das Ziel des Buches ist es, einen Überblick über die verschiedenen Aspekte von Zufahrtsschutz zu geben. Ich spreche in meinem Kapitel über die Entwicklung von Bedrohungen von Überfahrtaten und Sicherheitsstrategien. Die Kernaussage dessen lautet: Der Fokus darf nicht nur auf Terroranschlägen liegen. Denn wenn das getan wird, sind die Fallzahlen gering, da Terroranschläge eher selten sind. Fahrzeuge werden aber durchaus regelmäßig als Waffe genutzt und sollten daher sowohl in den Fokus von Statistiken als auch besonders in die daran gekoppelte öffentliche Wahrnehmung gerückt werden. Nicht nur Terroranschläge, sondern auch Alltagsverbrechen müssen berücksichtigt und mit Sicherheitsmaßnahmen darauf reagiert werden.

Die Nutzung von Fahrzeugen als Waffe hat sich nicht nur verbreitet, sondern normalisiert. Ein Grund dafür ist, dass Fahrzeuge einfache Tatwaffen sind. Bei Fahrzeugen als Waffen denken aber zu viele an terroristische Anschläge, obwohl wir es eher mit Alltagsbedrohungen zu tun haben. Beispiele dafür sind häusliche Gewalttaten, bei denen der Mann ein Auto nutzt, um seine Partnerin zu überfahren, oder aber auch die Abweisung an einer Club-Tür, bei der das Auto dann genutzt wird, um den Türsteher zu überfahren. Die Unberechenbarkeit und Kurzfristigkeit sind hier die größten Probleme.

Wie kann man sich in Bezug auf Sicherheitsstrategien und -maßnahmen trotzdem auf etwas Unberechenbares vorbereiten?

Yan St-Pierre: Wir haben durch die Analyse von Bedrohungen gelernt, dass auch Sicherheitskonzepte wie eine Zwiebel entwickelt werden müssen. Fahrzeuge als Waffe werden zur Normalität und finden sich auf unterschiedliche Art und Weise an unterschiedlichen Orten wieder. Dann müssen wir auch genauso vielschichtig mit Sicherheitsstrategien und -maßnahmen darauf reagieren. In Bezug auf den Zufahrtsschutz bedeutet dies zum Beispiel, dass die Leute auch da geschützt werden müssen, wo es Menschenmassen gibt – und das ist nicht immer nur ein Ort!

Sehen wir uns als Beispiel die Sicherheitsmaßnahmen am Berlin-Breitscheidplatz an, dann sehen wir, dass große Maßnahmen ergriffen wurden, um den Platz zu schützen, mit Barrieren bzw. Schikanen. Der Amokfahrer am 08. Juni 2022 – Achtung: Amok, nicht Terror – hat einfach die andere Straßenseite genutzt, um Menschen zu überfahren. Es war kein Terroranschlag, sondern die Tat eines Einzeltäters mit psychischen Problemen, der ohne besonderen politischen Anlass angegriffen hat. Dieser Fall zeigt, dass der Schutz oder Abschreckungseffekte nur einen bestimmten Raum abdecken kann, aber dass Täter trotzdem an der Peripherie zuschlagen können. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es große Menschenströme gibt, wie beispielsweise an der Tauentzienstraße. Das Thema ist auch brandaktuell, da wir uns nur ein paar Monate vor der EM befinden. Die Öffentlichkeit muss sich des Themas bewusst werden, dass die Menschen auch bei großen Zusammenkünften geschützt werden müssen – nicht nur vor Extremisten, sondern auch vor Einzeltätern.

Die Herausforderung hier ist, unter Berücksichtigung aller möglichen Situationen eine Lösung zu finden, die auf der einen Seite anwendbar ist, also die Leute schützt, und auf der anderen Seite die Menschen nicht einschränkt.

Angesichts der sich ständig verändernden Sicherheitslandschaft, wie identifizieren Sie aktuelle Herausforderungen in Bezug auf den Zufahrtsschutz und welche Rolle spielen diese in Ihrem Buch?

Yan St-Pierre: Herausforderungen erkennt man, wenn bei der Entwicklung von Sicherheitsstrategien physische, psychologische und ökonomische Komponenten berücksichtigt werden. Nur so kann effektiv agiert werden, was das Buch ausdrücklich betont. Eine Herausforderung ist zum Beispiel die Wahl der effektivsten Maßnahme für den Zufahrtsschutz. Betonblöcke, die in der Regel eingesetzt werden, sind tatsächlich nicht als Zufahrtsschutz geeignet, wenn man alle Komponenten berücksichtigt. Im Gegenteil: Es sind Waffenergänzungen aus physikalischen Gründen. Es ist auch das Kredo meines Autorenkollegen Christian Schneider: Die Leute verstehen nicht, dass Betonblöcke gefährlicher sind als eine Barriere. Wenn bei dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt Betonblöcke im Einsatz gewesen wären, hätte der LKW diese bis zu 194 Meter weit fliegen lassen können, was zu mehr Opfern geführt hätte.

Welche Zielgruppen sprechen Sie mit dem Buch an und wie können diese von den darin enthaltenen Sicherheitsratschlägen profitieren?

Yan St-Pierre: Die Zielgruppe ist ein Fachpublikum, das sich mit Verkehrsleitsystemen und Zufahrtsschutz beruflich und praktisch befassen muss. Dazu zählen unter anderem Beamte, Behörden und Politiker. Das Buch soll ihnen zeigen, dass es gute Konzepte gibt, die genutzt werden sollten. Der gesamte Prozess einer Entscheidungs- und Strategieentwicklung ist von A bis Z beschrieben und der akademische bzw. behördliche Duktus wurde berücksichtigt. Entscheidungsträger müssen sich mit diesem aktuellen Thema beschäftigen, egal ob es sich um Schützenfeste, die Love-Parade, das Oktoberfest oder Demonstrationen handelt. Der Sicherheitsmarkt hat sich entwickelt und es ist schwierig geworden, die beste Strategie mit geeigneten Maßnahmen zu finden. Das Buch soll bei der Entscheidung helfen und der Konter für die Unwissenheit über die Thematik sein. Zusammen mit weiteren Autoren bietet der VfS auch Seminare zum Thema Zufahrtsschutz in Berlin an.

Welche Veränderungen in den Sicherheitsparadigmen sehen Sie in der heutigen Zeit?

Yan St-Pierre: Sicherheitsmaßnahmen müssen so in unserem Alltag integriert werden, dass die Menschen geschützt, aber nicht eingeschränkt werden. Zum Beispiel findet vielerorts ein Wechsel vom Betonblock zu unsichtbaren Maßnahmen statt. In Britannien wurden beispielsweise Schrift und Logo einer Fußballmannschaft als Logo-Blockade verwendet. Barrieren können verschönert werden und sie können grün sein, wie zum Beispiel Parkbänke. Man muss die Multifunktion der Barrieren nutzen, was durch die heutige Technologie möglich ist und was für moderne Städte selbstverständlich sein sollte. Urbanisierungspläne für den Verkehr werden integriert werden und Designs neuer Städte müssen den Punkt Sicherheit mitbedenken. Es ist eine ewige Bedrohung und den Entscheidungsträgern muss klar werden: Hohe Kosten entstehen nicht nur durch Barrieren, sondern auch durch schlechte Planung und Anwendung. Eine 100% Sicherheit ist nicht möglich, aber es ist unsere Aufgabe, die Effizienz von Schutzmaßnahmen so stark wie möglich zu optimieren.

Vielen Dank, Yan St-Pierre!


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